Der Fluch der Mobilität
von thalasso wave, Erstveröffentlichung 2010

Früher war nicht alles besser, aber man konnte schon mal in aller Ruhe in eine Gletscherspalte fallen und keiner hat's gemerkt. Heute schmelzen die Gletscher weg und man hätte keine ruhige Minute drin. Weil alle paar Minuten das Mobiltelefon klingelt, eine SMS oder E-Mail eintrudelt. Wo man denn ist, wo man denn bleibt, was man denn macht, ob man den Termin auch ja nicht vergessen hat, ob man die E-Mail schon gelesen hat und wenn ja, warum nicht?

Die ständige Erreichbarkeit, vor einigen Jahren noch ein teurer Luxus, ist zum Fluch geworden. Nur weil jemand erreichbar ist, steht dieser nicht uneingeschränkt zur Verfügung. Das wird aber anscheinend erwartet.

Wenn ich dienstlich mein Heim verlasse, nehme ich mein Smartphone mit. Aber das Telefon ist gar nicht so schlau wie der Name sagt, sondern blöd wie Brot. Es sagt den Anrufern, SMS-Schreibern und E-Mail-Verfassern nicht, dass ich gar nicht zuhause bin. Das muss man alles selber machen. Und plötzlich steht man unter einem unglaublichen Erklärungsdruck.

Nein, ich mache keinen Urlaub, ich bin nicht krank, ich bin nur ein paar Tage beruflich unterwegs. Nein, ich habe meine Post nicht gelesen. Ich weiß nicht, was in meinem Briefkasten oder in meinem Postfach liegt. Die Post kommt wohl an, aber ich kann sie nicht lesen, weil ich nun mal nicht da bin. Und dass muss ich allen mitteilen. Muss ich? Nein, muss ich nicht. Das sind alles Dinge, die ein paar Tage Zeit haben.

Sonst geht es mir wie unlängst am Bahnhof einer großen, lauten Stadt. Ich wollte zu Fuß zum Kunden laufen. Das ist immer gut, wenn man stundenlang im Zug gesessen hat. Der Kunde hatte versprochen, mir eine Wegbeschreibung per E-Mail zukommen zu lassen. Also zückte ich mein dummes Smartphone und fragte meine E-Mail ab.

Zuerst eine Mail von einem Bekannten, der gerade seine neue Spiegelreflexkamera ausprobierte. Dem hatte ich während der Zugfahrt die Handhabung der Kamera per E-Mail erklärt. Zum Dank schickte er mir nun alle seine Photos in Originalgröße. Nicht als Anlage, sondern in der E-Mail selbst. Deshalb verbrachte das hochintelligente Smartphone die nächste Viertelstunde damit, riesige Datenmengen herunterzuladen bevor die Mail mit der Wegbeschreibung lesbar wurde.

Natürlich hätte ich einfach den Kunden anrufen und sagen können, mein Telefon würde gerade klemmen. Aber man will ja auch nicht den Anschein erwecken, man beherrsche sein Gerät nicht. Vielmehr beherrscht das Gerät mich. Aber ich wollte keinesfalls nachgeben und in ein Taxi steigen, was sicherlich die einfachste Lösung gewesen wäre.

Ich wollte zu Fuß gehen, in einer dieser Städte, deren Stadtpläne den scheinbar unvermeidlichen Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen sind. Endlich öffnete sich die E-Mail mit der Wegbeschreibung. Jetzt einfach das Kartenprogramm aufrufen, mir den Stadtplan online ansehen und losgehen. Ich wusste ja, es war nicht weit.

Da bekomme ich eine SMS von meinem Telekommunikationsanbieter. Leider sei das inklusive Datenvolumen meines Tarifs verbraucht. Ich könne zwar mit meinem Intelligenz-Telefon weiter surfen, aber nur mit gedrosselter Geschwindigkeit. Unglücklicherweise sieht die technische Ausführung dieser Drosselung keine tatsächlich verminderte Geschwindigkeit vor, sondern eine Reduzierung der Datenpakete. Nachdem eine Anzahl gesendet wurde, muss man fünf Minuten warten, bis die nächsten kommen. Mit anderen Worten: auf dem Bildschirm meines Überflieger-Telefon war nur noch ein halber Stadtplan zu sehen. So verwandelte sich mein entspannter Fußmarsch in ein Online-Puzzle mit langsamer Auflösung. Das sollte man als Therapie für GPS-Junkies anbieten.

Deshalb beantworte ich, wenn ich unterwegs bin nur noch Nachrichten, die wirklich wichtig sind. Alle anderen müssen das tun, was sie früher, als auch nicht alles besser war, auch hätten tun müssen: Warten.

Das geht. Es ist unpopulär, aber machbar. Ich habe es auch schon mal gemacht. Ich werde es wieder tun. Auf dem Rückweg zum Bahnhof habe ich mich in einem Park an einen Teich gesetzt und das Smartphone an die Enten verfüttert. Deshalb bin ich leider in letzter Zeit sehr schlecht erreichbar.

© 2010 www.simon-verlag.de

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